Dienstag, 6. März 2012

Wer ist der Schönste im ganzen Land?




40 Jahre Schneewittchensarg: Unterwegs auf der Eifel Classic

Es war einmal an einem verregneten Tag in der Eifel. Dunkle Wolken hingen über dem Nürburgring, doch in seinem Fahrerlager herrschte sonnige Stimmung. Bei der Oldtimer-Rallye „Eifel Classic“ trafen sich 2010 rund 330 Oldtimerfreunde, um an der dreitägigen Tour durch die märchenhafte Region bis hin nach Luxemburg teilzunehmen. Schöne, sportliche und seltene Autos wie ein Porsche 550 RS Spyder, ein Jaguar SS 100 aus den 30er Jahren, der Audi Ur-Quattro – mit 30 Jahren auch schon Oldtimer – und unser von Volvo zur Verfügung gestellter P 1800 ES rangierten unter den 165 Pretiosen. Wobei der letzere hinsichtlich seiner Schönheit ganz sicher ein Favorit war.

Strahlendes Blaumetallic, glänzende Chromstoßstangen und die großen, getönten Fensterflächen stechen trotz trüben Wetters sofort ins Auge. Die sanft gerundeten Seitenpartien, die schlanke Silhouette und der gut proportionierte Anteil an Glas und Chrom verleihen dem Wagen einen Hauch von Luxus. Der Volvo P 1800 ES ist leer, als wir einsteigen und das Rallye-Equipment über die kleine Rücksitzbank verteilen. Die schwere Fahrertür aus Schwedenstahl fällt wuchtig ins Schloss. Doch schon beim Ausziehen der Jacke merke ich, dass dies kein Kombi nach heutigem Verständnis ist. Die hintere Ladefläche ist so hoch, der Dachaufbau so flach, dass die Sicht im Rückspiegel schon durch ein unordentlich abgelegtes Stück Textil eingeschränkt ist. Mit den Helmen für den Nürburgring, ein paar Äpfeln für den kleinen Appetit sowie Stoppuhren für die anstehenden Zeitkontrollen und Wertungsprüfungen ist der Volvo voll. Hier sei angemerkt: ein typisches Rallye-Auto ist er auch nicht.

Der Volvo P 1800 ES erwuchs 1971 aus dem P 1800, dem zweiten als Sportwagen designten Volvo nach dem P 1900 seit der Firmengründung im Jahr 1927. Helmer Pettersson, legendärer Volvo-Designer, wollte den Wagen in „italienischem“ Sportwagen-Look auf den Markt bringen. Dafür setzte er Ende der 50er Jahre seinen Sohn Pelle Pettersson in der Turiner Firma Frua ein, der aus dem Projekt – wenn auch unter italienischer Namensgebung - als erfolgreicher Designer hervorging. Im Januar 1960 beim Autosalon in Brüssel präsentiert, baute man ab 1961 man das Coupé - das auch Fernsehstar Roger Moore alias ‚Simon Templar‘ fuhr - mit fünffach gelagertem Triebwerk, steigerte seine Leistung von 96 auf bis zu 108 PS und exportierte erfolgreich in die Vereinigten Staaten. Fast 35.000 Exemplare liefen bis zum letzten Baujahr 1972 vom Band. Der neue P 1800 ES unterschied sich hauptsächlich optisch vom Vorgänger, unter anderem durch einen schwarzen Kühlergrill-Einsatz, ein Dreispeichen-Lenkrad, Armaturenbrett in Holz-Optik und schwarz eingefassten Armaturen sowie Alufelgen. Die auffallendste Besonderheit war jedoch die veränderte Karosserieform. Der Sportwagen erhielt eine große gläserne Heckklappe und verlängerte Seitenfenster und avancierte damit zum Kombi. Dem englischen Reliant Scimitar oder Aston Martin Shooting Break nachempfunden gelang den Schweden nun die elegante Version eines Sportkombis, der in Deutschland unter dem Namen „Schneewittchensarg“ bekannt wurde.

Am Ziel der ersten Rallye-Etappe kommen wir – ähnlich wie in Grimms Märchen - zum Stehen und die Heckklappe springt auf. Auf der Suche nach der Ursache kommen die zwei Scharniere der Scheibe in Betracht, eine bemerkenswert schöne Konstruktion, die dem gesamten Heck ein dynamisches Aussehen verleiht. Die Scharniere sind direkt mit der Scheibe verschraubt: eines ist fix, das andere verstellbar und für die Scheibenjustierung zuständig. Der verschließbare Drehgriff am unteren Rand der Scheibe schließlich ist der Übeltäter, das Schloss ist kaputt und der Griff dreht sich während der Fahrt eigenmächtig.
„Wer hat denn da an meinem Lenkrädchen gedreht?“ fragen sich bei fortgesetzter Fahrt auf dem Nürburgring sicher auch diejenigen, deren Oldtimer plötzlich entgegen der Fahrtrichtung an der Rennstrecke parken. Nasser Straßenbelag, schlechte Bereifung und der jugendliche Elan mancher Fahrer lassen so einige Rallye-Teilnehmer Pirouetten drehen, die an Leitplanken enden, und damit als Schönheitskonkurrenten ausscheiden. Der Schneewittchensarg hingegen gleitet souverän durch die Kurven, obwohl sich auch in ihm die Gefahr durch kurze Rutschpartien erspüren lässt. Die selbsttragende Stahlkarosserie schwankt in Slalomfahrt von einer Seite auf die andere. Die Sitze ohne Seitenhalt lassen dabei überschwängliches Rutschen nach beiden Seiten zu, was zur Unterhaltung von Fahrerin und Co-Pilot beiträgt. So lässt sich auf der rund 21 Kilometer langen Nordschleife das Fahrverhalten des Volvo P 1800 ES mit seinem B 20 B-Motor bestens ausprobieren. Die Beschleunigung mit 124 PS macht sich bei voller Kraft lautstark bemerkbar, ebenso wie die Windgeräusche. Der 4-Zylinder-Reihenmotor mit 1986 ccm hat eine elektronische Benzineinspritzung (Bosch D-Jetronic), die für die damalige Zeit hochmodern war. Damit erreicht er ohne Probleme auch die Höchstgeschwindigkeit von 175 km/h, doch austesten möchten wir das bei diesen Wetter- und Straßenverhältnissen nicht. Die hydraulische Zweikreis-Bremsanlage mit Scheibenbremsen rundum kann zwar zupacken, doch ist sie für ungeübte Schneewittchensarg-Führerinnen gewöhnungsbedürftig.

Die Übung stellt sich schnell ein. Nach dreimal umrundetem Rennparcours und einigen Ortsdurchfahrten der verschlafenen Eifel-Dörfer lenkt sich der Volvo schon gleich viel vertrauter. Sogar die Abmessungen insbesondere der langen Schnauze lassen sich bei Lichtschrankenprüfungen gut einschätzen. Drei Tage und 780 Kilometer später schnurrt der Motor bei der Zieleinfahrt noch immer, als wäre er gerade eingefahren worden. Da macht der Volvo seinem Ruf als solides Auto alle Ehre, immerhin hat er bereits über 274 Tsd. Kilometer - ohne Austauschmotor - auf dem Tacho. Nunmehr 40 Jahre alt findet der Schneewittchensarg immer noch unzählige neue Bewunderer, die im Fahrerlager des Nürburgrings applaudierend Spalier stehen. Nicht umsonst ist das von 1971 bis 1973 nur knapp über 8000 Mal gebaute Modell ein heißgeliebter Klassiker geworden. Er ist eben doch der Schönste, nicht nur im Eifelland.


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